Ein Kommentar von Sarah Ritschel in der AZ vom 4.12.2019
Die Pisa-Studie verbreitet heute weniger Schrecken als noch Anfang des Jahrtausends. Dass jeder Fünfte nur wie ein Grundschüler liest, ist aber bedrohlich.
Die Pisa-Studie ist nicht nur ein großes Schulzeugnis für die Länder der Welt. Sie zeigt uns diesmal auch einen kleinen Ausschnitt aus dem Deutschland der Zukunft. Denn zum ersten Mal hat die Analyse der OECD die Generation, die das Land einmal prägen wird, ganz konkret auf ihre Alltagstauglichkeit getestet.
Pisa 2018 prüfte, wie selbstständig und kritisch sich die 15-Jährigen von heute in der Online-Welt bewegen. In ihrer eigenen Welt. Das Ergebnis lässt einen schaudern und muss Deutschlands Bildungspolitiker genauso wie die Eltern zu Hause aufrütteln.
Ein gutes Leseverständnis ist entscheidend, um sich eine Meinung bilden zu können
Denn Pisa 2018 schaute besonders genau auf das (digitale) Leseverständnis deutscher Schüler. Sie mussten Texte und Links im Internet auf ihre Glaubwürdigkeit prüfen, sollten in einem simulierten Chat Fakten von Meinungen abgrenzen. Die Resultate sind erschütternd, zumindest für die Gruppe der schwächsten Schüler: Jeder fünfte 15-Jährige erreicht beim Leseverstehen nur Grundschulniveau. Das heißt, er oder sie kann mit ganz einfachen Leseanforderungen nicht umgehen, geschweige denn den Inhalt richtig einordnen. Jeder zweite Schüler sagt noch dazu: „Ich lese nur, wenn ich lesen muss.“
Dabei ist gerade das Lesen, das Sich-Informieren und das Differenzieren-Können entscheidend dafür, sich eine Meinung zu bilden und nicht zu einem manipulierbaren Mitläufer zu werden – heute mehr denn je. Jeder kann mittlerweile über die sozialen Medien Unsinn in die Welt hinausblasen und findet innerhalb kürzester Zeit Empfänger, die ihn nur zu gerne aufnehmen und weiterverbreiten. Gruppierungen an den Rändern des Meinungsspektrums machen sich das zunutze, populistische Parteien wie die AfD verwenden Beiträge in sozialen Netzwerken gezielt für Indoktrination und mancher Influencer im Netz hat tieferliegende Interessen, als nur ein bisschen Geld mit sich als Marke zu verdienen.
In Deutschland entscheidet soziale Herkunft stark über den Bildungserfolg
Die hohe Zahl der schlechten Leser nur unter Kindern mit Migrationshintergrund zu suchen, wäre zu einfach. 22 Prozent der Schüler hatten 2018 familiäre Wurzeln außerhalb Deutschlands. Und ja, diese Jugendlichen lesen durchschnittlich schlechter als Muttersprachler. Doch deren Leistungen allein erklären nicht die ganze Statistik. Ein längst bekanntes Problem ist auch, dass Schüler aus niedrigen Gesellschaftsschichten deutlich schlechter lesen – und übrigens auch rechnen – als der Nachwuchs privilegierter Familien. In kaum einem anderen Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungserfolg wie in Deutschland. Bei jeder neuen Pisa-Studie versprechen Bildungspolitiker, das Problem anzugehen. Ernst scheinen sie das nicht zu nehmen: Die Leistungsunterschiede zwischen den sozialen Schichten sind heute noch größer als vor zehn Jahren.
Aber jeder weiß es doch: Gerade Schüler, die nicht in intakten und behüteten Verhältnissen aufwachsen, brauchen ihre Lehrer, um kritische, informierte Menschen zu werden. Ohne richtig lesen zu können, ist das unmöglich. Schüler, die einfachste Informationen kaum verarbeiten können, sind nicht nur leichte Beute für Meinungsmacher. Sie können auch nicht vernünftig Verträge und Versicherungen abschließen oder ihr Geld verwalten.
Eine Lehre aus Pisa 2018: Kinder müssen befähigt werden, Inhalte zu verstehen
Schüler, die Texte nicht verstehen und keinen Bock auf Nachrichten haben, darf man nicht einfach so mitlaufen lassen. Das ist die Erkenntnis aus Pisa 2018. Wir brauchen engagierte Eltern. Wir brauchen schulische Förderangebote, die Kinder dazu befähigen, Inhalte zu verstehen, Informationen lesen zu lernen. Sonst droht zwei Jahrzehnte nach dem ersten Pisa-Schock bald ein Schock für das ganze gesellschaftliche System.
@Sarah Ritschel (Augsburger Allgemeine Zeitung)